Pino Alessio - „Was bleibt ist die Malerei“
Notizen zu den Arbeiten von Pino Alessio von Jürgen Raap
Wer Pino Alessio in seinem Düsseldorfer Atelier besucht, der kann beobachten, wie der Maler immer an sechs oder sieben Staffeleien gleichzeitig arbeitet. Diese Methode ist nicht nur technisch begründet, z.B. weil man bei der Ölmalerei immer wieder Trockenphasen abwarten muss und in dieser Zeit lieber an einem anderen Bild arbeitet, sondern diese Vorgehensweise macht die eigentliche künstlerische Seite des Malprozesses aus: In den verschiedenen Stadien der Entstehungsphase arbeiten die einzelnen Bilder visuell gegeneinander wie physikalische Kräfte, die sich anziehen und wieder abstoßen. Innerhalb dieses bildübergreifenden Kräftefeldes setzt der Maler seine Farben wie ein Tonsetzer (so nannte man früher einen Komponisten), der auf dem Notenpapier die musikalischen Töne Fixiert.
Die spätere Hängung in einer Ausstellung entspricht allerdings nicht der ursprünglichen Reihenfolge der Bearbeitung; und so ist ein bestimmter Rot-Ton letztlich auch nicht durch das Rot im Nachbarbild definiert. Einzelne Bildpartien werden nämlich oft noch überarbeitet, und dabei kann dieses Rot dann völlig verschwinden; ebenso manche der figurativen Anklänge, die wir z.B. in der Werkserie mit den Beatricen wahrnehmen
Diese Serie spielt auf Dante Aligheri an: Dessen literarischer Text „Vita Nuova“ aus dem Jahre 1292 bezieht sich auf eine früh verstorbene Frau namens Beatrice, der Dante zum ersten Mal 1274 und dann noch ein weiteres mal 1283 begegnet sein will. Später taucht die Figur der Beatrice dann in Dantes „Divina Commedia“ erneut auf und zwar als Führerin des Erzählers durch das Paradies. Eine weitere Führerfigur in dieser „Göttlichen Komödie“ ist der römische Dichter Vergil, auf den Pino Alessio in einem anderen Bild ebenfalls anspielt.
Bei der „Beatricen“ -Reihe bilden die blauen Hintergründe eine visuelle Klammer. Generell nutzt Pino Alessio in vielen seiner Arbeiten die Tiefenwirkung der physikalischen Lichtwellen bestimmter Farbwerte aus. Mit ihrer extrem unterschiedlichen Fernwirkung ruft das unmittelbare Nebeneinander von Rot und Blau einen Flimmerkontrast hervor; und diese farbliche Kontrastwirkung verstärkt den temperamentvoll – dynamischen Duktus der Formensprache: Die Bilder transportieren eine Energie im doppeldeutigen Wortsinne – die Kraft des Malvorgangs entlädt sich in einer Farbgewalt, in einem eruptiv ausgelebten Farbrausch. Da brodeln ein Gelb, ein feuriges Rot und ein sattes Rotviolett wie Lavamasse aus einem Vulkan, da türmen sich tiefblaue Farbströme zu tosenden Wellen auf, da wird schäumende weiße Lasurgischt übers Bild gepeitscht, da quirlt und schimmert die Farbe in leuchtenden Tropfenformen und in dünnen Tränenbächen, und da scheint ein kräftiger Sog alles mit sich fortzureißen und verschlingen zu wollen…
Doch die bloße Freude an der Farbe allein würde diese Malerei noch nicht rechtfertigen, und Pino Alessio ist ja auch kein ungestüm – expressiver Maler, sondern er breitet in einem sehr präzisen Bildaufbau Metaphern und Parabeln aus, die freilich nicht als Illustration einer literarischen Vorlage zu missverstehen wären.
„Ich flirte mit Dante“ , sagt Pino Alessio zur Ikonografie seiner Arbeiten, und das ist eben eine ganz andere künstlerische Haltung als sie z.B. der Illustrator Gustave Doré im 19. Jh. hatte, als er seine Vision von Dantes Schilderungen des Infernos in druckgrafische Blätter mit phantastisch – surrealem Anklang umsetzte.
Alessio indessen bewahrt sich eine viel größere Distanz, und die erlaubt ihm letztlich auch eine viel größere interpretatorische Freiheit, bei der die Farbe sich nicht den Inhalten unterordnen muss. Wo Dante zudem dem fest gefügten Weltbild der Hochscholastik verpflichtet war, kann sich Pino Alessio als Maler des 21. Jh. auch einen freimütigeren Umgang mit den literarisch – philosophischen Topoi erlauben und seine eigene Bildwelt entwerfen.
Alessio animiert den Betrachter dazu, sich mit einem analysierenden Blick an diese Bildwelt anzunähern und die Erzählstrukturen zu entdecken, wie dies gleich noch näher beschrieben wird. Intuition und Kalkulation halten sich die Waage. Der Maler aktiviert Erinnerungen, er steckt Assoziationsfelder ab, und auf diesen Feldern wird eine einmal getroffene malerische Entscheidung so lange „hinterfragt“, bis das Formgefüge und die Farbströme den richtigen „Schwung“ haben – eine Stilistik, die mit den Verdrehungen des Manierismus vergleichbar ist oder mit der Dynamisierung der Formen im Barock. Die „Farbsprengungen“ bei Pino Alessio lassen in gewisser Weise eine Analogie zum barocken Sprenggiebel ahnen.
Figuratives verbleibt in dieser Malerei auf der Ebene der Andeutung wie die silhouettenhaften Gesichter im Profil. Der Lorbeerkranz, der einst das Haupt der antiken Götter zierte und jenes der römischen Kaiser und der bis heute als Attribut für eine besondere Auszeichnung gilt, taucht bei Alessio in der großformatigen Waldlandschaft (2004) als Parabel auf die Vergeistigung des Menschen auf, d.h. als Attribut für eine transzendentale Haltung, die dem mittelalterlichen Menschen eigen war, sofern er der gotischen Mystik folgte, oder später, an der Schwelle zur Neuzeit, dem faustischen Streben nach rationaler Erkenntnis.
Wenn das Pentand zur Vergeistigung die gleichzeitige Entkörperung bzw. die emotionale Distanz zum Körperlichen ist, dann ist einsichtig, dass mit der Begründung der Wissenschaft in der Spätscholastik und mit dem Rationalismus der Renaissance in unserer Zivilisationsgeschichte gerade ab dem 16. Jh. so genannte Scham – und Peinlichkeitsschwellen etabliert werden, die das unbefangene Verhältnis des mittelalterlichen Menschen zu seinem Körper ablösen. Die Existenzialität der Sexualität ist wesentlicher Teil von Pino Alessios Themenkanon, und so finden wir in seinen Bildern immer wieder direkte und indirekte erotische Anspielungen.
„Dein Finger in meiner Seele“ – so lautet der Titel eines Doppelbildes. Auch hier sind konkrete Formen wie ein Pferdekopf und Gesichter erst bei genauerem Hinsehen erkennbar. Zwei massive, diffuse große dunkle Farbflächen bilden visuelle Haltepunkte für das Auge des Betrachters. An den Rändern dynamisieren sich die Formen jedoch; sie locken das Auge von diesen Haltepunkten weg. Und indem das Auge über die einzelnen Partien des Bildgrundes wandert, erschließt sich ihm die Chronologie der Bilderzählung.
Diese Erzählung hat auch sehr viel mit der Person des Malers zu tun, der seine Befindlichkeit in jedem seiner Bilder offenbart, und der auch nicht anders handeln könnte, so wie man ja auch nicht wirklich seine Handschrift verstellen und einen Graphologen täuschen könnte. Nur das, was der Maler unausgesprochen über sich selbst in diese Bilder einbringt, macht die Authentizität der Werke aus.
„Vor einem dunklen Wald…“ Mit diesen Worten beginnt die „Göttliche Komödie“. Pino Alessios große Waldlandschaft zeigt ein Geflecht windgepeitschter Bäume. Das Szenario wirkt ein wenig unbehaglich ; es mag vielleicht kleine Kinder zum pfeifen animieren wie ein dunkler Keller, damit die Pfeiftöne das Böse vertreiben und zugleich die Angst.
Doch in diesem Bild treffen wir gleichzeitig noch auf eine ganz andere und überwiegende Stimmung. Vereinzelt brechen sich Lichtstrahlen durch das Gehölz, und das hat etwas Liebliches. Auf einer hellen Lichtung prangt der bereits erwähnte Lorbeerkranz. Bereits die strikte symmetrische Aufteilung des Bildes suggeriert eine absolute Ruhe und Harmonie: Man ist mit sich selbst im Wald allein und genießt die Stille.
Das Gemälde kommuniziert das gleiche physische Erleben, das auch die Aufführung einer Symphonie hervorzubringen vermag mit ihren Momenten einer dramatischen Steigerung und ruhigeren Passagen. Auch Assoziationen zur Waldmusik und zur romantischen Oper von Carl Maria von Weber und dessen berühmter Wolfsschluchtszene drängen sich auf.
Max Ernst schrieb in seiner Autobiografie, als er zum ersten mal einen Wald betrat, habe er „gemischte Gefühle“ gespürt, „Entzücken und Bedrückung. Und was die Romantiker ‚Naturgefühl’ getauft haben. Die wunderbare Lust, frei zu atmen im offenen Raum, doch gleichzeitig die Beklemmung, ringsum von feindlichen Bäumen eingekerkert zu sein. Draußen wie drinnen zugleich, frei und gefangen…“
Dieses zwiespaltige Empfinden fand um 1926/27 Ausdruck in Max Ernsts Serie mit düsteren Waldlandschaften, die ohne die Tradition der deutschen Waldbilder von Albrecht Altdorfer des Caspar David Friedrich nicht denkbar gewesen wären, wie Uwe M. Schneede in seiner Max Ernst – Biografie von 1927 anmerkt. Bei Caspar David Friedrich setzt eine Auffüllung der Landschaft mit subjektiven Erlebnisinhalten ein. Pino Alessio nimmt eine solche Auffüllung auf seine Weise vor: Als lärmige Touristen beim Besuch einer berühmten italienischen Kirche jegliches andächtiges Innehalten unmöglich machten, sehnte sich der Maler in diesem Moment nach der Stille des Waldes.
Der Wald ist mithin ein Refugium der Besinnung, ein Ort des Gegensatzes und der Gleichzeitigkeit von Licht und Dunkel: Das Dickicht wird „gelichtet“, besagt eine Redewendung; baumarme Inseln inmitten des Gehölzes sind im wahren Wortsinne „Lichtungen“.
Allein schon durch sein Format wirkt das Bild wie eine Panorama – Kulisse, wie eine „bühnenszenische“ Komposition, die in der Malerei der Renaissance und des Barock ihre Blüten hatte, das Pino Alessio allerdings durch ein freies und natürliches Raumempfinden bricht. Doch wie bei seinen Bildern zu Dante, so bestimmt auch hier eine dichterische Schau der Wirklichkeit den Charakter des Bildinhalts.
|