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Timm Ulrichs: 19. Oktober 2008 - 08. November 2008
 
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Bilder zur Ausstellung:  
   
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Raum 3
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ART-FORUM:  
   
Über die Ausstellung diskutierten mit Timm Ulrichs: Dr. Ellen Schwinzer, Leiterin des Gustav-Lübcke-Museums, Hamm; Dr. Inge Schnettler, Kulturredaktion Rheinische Post; Isabeella Beumer, voice-artist; Prof. Hermann-Josef Kuhna, Kunstakademie Münster; Klaus Noack, Galerist. Es moderiert Jürgen Raap.
   
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Artikel aus der Kunstzeitung Nr. 141 / MAI 2008
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VITA:  
   
1940 Geboren in Berlin
1959-66 Architektur-Studium an der Technischen Hochschule Hannover
1961 Gründung der "Werbezentrale für Totalkunst"
(Selbstausstellung als "erstes lebendes Kunstwerk" u.a.m.)
Seit 1969 "Kunstpraxis" (Sprechstunden nach Vereinbarung)
1972-2005 Professur an der Kunstakademie Münster
1979 Niedersächsisches Künstlerstipendium
1983 Kunstpreis der NORD/LB, Hannover
1998 Niedersächsischer Kunstpreis 1998 - Bildende Kunst
1999 Kunstpreis der Künstler der Großen Kunstausstellung NRW Düsseldorf 1999
2001 Niedersachsen-Preis 2001 (Niedersächsischer Staatspreis 2001)
2003 Kunstpreis 2002 der SPD-Fraktion im Niedersächsischen Landtag
Lebt und arbeitet in Hannover und Münster
 

   
TEXT:
Timm Ulrichs revisus
Von Richard W. Gassen
 
   

"Was die Schönheit sey, das weiß ich nit", sagte Albrecht Dürer zu Beginn des 16. Jahrhunderts und meinte damit die Frage nach der Kunst. Timm Ulrichs behauptet: "Kunst ist Leben, Leben ist Kunst"! Mit dieser Feststellung will er natürlich kein allgemeingültiges und alle Zeiten geltendes Kriterium für den Begriff Kunst festlegen - besteht doch vielleicht gerade die Kunst darin, die Frage nach der Kunst ständig offenzuhalten, sie immer neu zu stellen, eine endgültige Begriffsbestimmung zu verhindern, um den "Freiraum" Kunst nicht einzuengen. Die Behauptung reflektiert vielmehr eine individuelle Kunst-Praxis und -Theorie, charakterisiert präzise Timm Ulrichs' künstlerisches Programm: Der Totalität des Lebens entspricht die Totalität der Kunst.

Totalkunst, in der Folge von Jugendstil mit seinen Tendenzen zum Gesamtkunstwerk, Weimarer Bauhaus und Dada, hebt nicht nur die Trennung zwischen den einzelnen bildkünstlerischen Gattungen auf, sondern integriert auch Dichtung, Musik, Theater, Film, angewandte Kunst sowie außerkünstlerische Disziplinen wie die Naturwissenschaften, die Soziologie, die Statistik, kurzum sämtliche Bereiche menschlicher Aktivitäten. Totalkunst ist nach eigener Aussage "die neue Einstellung zu den Dingen, das neue Welt-Bild, die neue Welt-Anschauung" sowie "die Summe der gegebenen ästhetischen, poetischen und dramatischen Phänomene". "Die objektive Grenze der Totalkunst ist die Grenze des Weltalls", "Totalkunst ist das Leben selbst". Die Vorstellung der Deckungsgleichheit von Kunst und Leben ist eine - utopische - Forderung seitens des Künstlers, die er für sich zu realisieren sucht, Allgemeingut ist sie in der Tat (noch?) nicht. Kunst und Leben gelten weitverbreitet als ein Gegensatzpaar, das nicht so leicht in Einklang zu bringen ist.

Auch Joseph Beuys' Ausspruch "Alles ist Kunst" beschäftigt sich mit der Aufhebung des traditionellen Kunstbegriffs, mit der Gleichsetzung von Leben und Kunst. Sein Totalitätsbegriff, seine "plastische Theorie", beinhaltet, daß in jedem Mensch ein Künstler stecke, wenn man ihm die Möglichkeit gibt, seine eigenen Fähigkeiten aufzufinden und auszubilden; daß Kunst nicht ein Prozeß ist, der an bestimmte Medien gebunden ist, sondern intermediär alle Lebensbereiche, alle menschlichen Tätigkeiten umfaßt; daß die Idee im Denken und Handeln der Menschen weiterlebt. Bei dieser theoretisch formulierten Gleichsetzung von Kunst und Leben wird es für den Bereich der Praxis problematisch: Eine inhaltliche Bestimmung des Begriffs Kunst erscheint unmöglich, Kunst als eine eigenständige Seinskategorie wird hinfällig.

Für Timm Ulrichs ist nicht alles Kunst. "Ich kann keine Kunst mehr sehen" steht auf einem Schild zu lesen, das der Künstler, mit dunkler Brille, Armbinde und Blindenstock ausgestattet, um den Hals trägt (Nr. 69), und meint jene Kunst damit, die seiner Meinung nach nicht mit dem Leben in Beziehung zu setzen ist. „Ich kann und mag all jene Künste nicht mehr sehen, die als nur dekorativer Schein, als Deckmantel, als Trost- und Schönheitspflaster aktuelle Wunden bemänteln, verdecken, kaschieren und allenthalben die Welt mit oberflächlichem Zeugs voll- und verstellen. Da Kunst - anders als das Leben stets als E-Kunst, kaum als zum alsbaldigen Verbrauch bestimmte U-Kunst begriffen - immer schon Schonung genießt aufgrund ihres Selbstverständnisses, ,zeitlos' zu sein, kann man bald das Leben vor lauter Kunst nicht mehr sehen, greifen die musealen Friedhöfe immer mehr und weiter um sich."

Also keine Kunst nur fürs Museum, keine Präferenz eines bestimmten Mediums allein, keine Schaffung einer Scheinwelt, keine Ästhetik um ihrer selbst willen. Totalkunst ist vielmehr Konzeptkunst, Ideenkunst. Nicht mehr das einzelne Kunstwerk in seinem endgültigen Stadium ist von Bedeutung, sondern seine Entstehung im Kopf, die Idee. So läßt sich auch in Timm Ulrichs' Oeuvre nicht ein eigener persönlicher Stil, eine Künstlerhandschrift", noch ein durchgängiges Sujet finden.

Er ist ständig auf der Jagd nach neuen Einfällen - und findet sie; die Materialisierung im Kunstwerk folgt stets dem Primat der Idee. Timm Ulrichs ziert und propagiert Graphiken, Bilder, Objekte, Bücher, Photos, Collagen, Assemblagen; Poesie, Musik, Film, Theater, Statistiken; Environments Aktionen, Performances; Ich-Kunst, Körper-Kunst, Natur-Kunst, Tier Landschafts-Kunst, "Placebo-Art". Der Mannigfaltigkeit der künstlerischen Gestaltungsmittel und der "Stile", sofern von solchen überhaupt gesprochen werden kann, entspricht die Komplexität seines Werkes, in dem häufig die traditionelle räumliche und zeitliche Dimensionierung aufgehoben scheint. [...]

Quelle:
Timm Ulrichs. Totalkunst: Angesammelte Werke, Katalogredaktion: Richard W. Gassen, Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen am Rhein 1984, S. 51ff.

   

   
Michael Stoeber über Timm Ulrichs
(Artist Kunstmagazin Nr.71)
 
   
Timm Ulrichs hat es nicht leicht. Der 1940 in Berlin geborene Künstler ist, wie die Franzosen sagen, ein »touche à tout«. Einer, der das Abenteuer der Abwechslung liebt, der immer neu auf artistische Entdeckungsreise geht und mit vielen Medien und Materialien arbeitet.

Mit dieser Haltung hat er sich auf dem Kunstmarkt, wo wenige prägnante Gesten und eingängige visuelle Formulierungen für Aufmerksamkeit, Wiedererkennbarkeit und Verkäuflichkeit von Werken sorgen, keinen Gefallen getan. Gewiss - es gibt Arbeiten von ihm, die sich dem Gedächtnis des Kunstfreundes unwiderruflich eingeprägt haben. Dazu gehören sicher die spöttische Foto-Ikone »Ich kann keine Kunst mehr sehen!«, der anthropomorphe Stuhl, »nach langem Stehen sich zur Ruhe setzend«, der anrührende Findling oder das aufwühlende Kopfsteinpflaster, aber die disparate, sich jedem uniformen Nenner verweigernde Erscheinungsform seines Gesamtwerkes macht ihn weniger zu einem Künstler für ein großes Publikum als zu einem Künstler für Künstler, zu einem artists? artist, wie es in Amerika heißt.

Künstler scheinen denn auch von Anfang an sehr genau beobachtet zu haben, was ihr Kollege so alles produziert. Hier soll keineswegs für jeden Fall des Auftauchens gleichartiger Werke der Verdacht einer schnöden Übernahme künstlerischer Inventionen nahe gelegt werden. Wie in der Wissenschaft kann es ebenso in der Kunst zu Parallel- und Mehrfach-Entdeckungen kommen. Aber erstaunlich ist schon, dass Künstler mit artistischen Setzungen reüssieren, die sich zuerst, oft nur als Ansatz, aber in jedem Falle von ihm angestoßen und ausprobiert, bei Timm Ulrichs finden. Ein aktuelles Beispiel ist seine im Schlamm versinkende Kirche für München. Mit einer ganz ähnlichen Arbeit wurde Guillaume Bijl zu den diesjährigen »Skulptur.Projekten« in Münster eingeladen. Auf Grund des Eindrucks feindlicher Entlehnungen eigener Ideen hat sich bei dem Künstler eine Neigung zur Jeremiade entwickelt, die in der Kunstszene immer wieder Anlass zu Spott gibt. Aber man hört auch andere Stimmen, zum Beispiel die von Thomas Kapielski mit einer ebenso amüsanten wie anrührenden Hommage: »Mit Hanns Zischler«, so schreibt er, »hatte ich mal ein Projekt in Gang gesetzt, das eine Übersetzung zurück in die Ausgangssprache führen und erkunden wollte, wie sich der Text verändern würde: Ein deutscher von einem Übersetzer ins Chinesische übertragen; diese Übersetzung von einem weiteren zurück ins Deutsche.

Dann der Abgleich und die Auswertung. Wir ließen es bleiben. Timm Ulrichs hatte es längst und überhaupt ja schon alles gemacht! Diesem achtbaren Künstler laste ich allein an, dass er einen Kahlschlag hinterlassen wird. Wenn man meint, eine gute Idee zu haben, ist es ratsam, vorher nachzusehen, ob er sie schon umgesetzt hat.«

Schaut der Betrachter etwas intensiver auf das künstlerische Werk von Timm Ulrichs, meint er doch eine Art Zentrum ausmachen zu können, von dem die vielfältigen und unterschiedlichen Kunstäußerungen des Meisters ausgehen und durch das sie zusammengehalten werden. Dieses Zentrum ist das Selbstporträt. Man ist versucht, das Werk des Künstlers zu charakterisieren, indem man ihm einen abgewandelten Satz Ludwig des XIV. gleichsam als Motto und Maxime voranstellt: »L' art, c'est moi« - die Kunst bin ich. Der Satz bringt in der Form seiner emphatischen Verschränkung von Kunst und Künstler-Ich zum Ausdruck, wo die inspirativen Quellen von Timm Ulrichs liegen, der seine Themen, Motive und Recherchen immer wieder an die eigene Person bindet. Außerdem hat die wortspielerische Anleihe bei dem französischen Souverän den Vorteil, eine Ironie ins Spiel zu bringen, die auch die Signatur dieser Kunst ist, die selbst gern mit wortspielerischen Komponenten arbeitet und aus der Differenz von wörtlichem und übertragenem Sinn ihren Mehrwert an Bedeutung schöpft. Und schließlich führt der Satz ganz direkt zu der ersten spektakulären Aktion von Timm Ulrichs, mit der er sich handstreichartig im visuellen Gedächtnis der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts einen festen Platz erobert hat.

Die Rede ist von der spektakulären Aktion in der Frankfurter Galerie Patio im Jahre 1966, als der Künstler sich in einen Glaskasten setzt und zur lebenden Skulptur, zum Kunstwerk erklärt. Nicht nur die Umstände, unter denen das Projekt verwirklicht werden konnte, erinnern an einen Traditionsfaden der Moderne, den Ulrichs - damals von vielen als Clown missverstanden - hier aufgreift und der bei den Ready-Mades von Marcel Duchamp seinen Anfang nimmt. Als Duchamp 1917 in New York sein als »Fountain« betiteltes Pissoir bei der juryfreien Armory Show einreicht, wird das Objekt ausjuriert, ein in der Geschichte solcher Ausstellungen einmaliger Vorgang, der sich fast spiegelbildlich im Jahre 1965 in Berlin wiederholt, als Timm Ulrichs vergeblich versucht, sich dort bei einer ebenfalls juryfreien Kunstschau als erstes lebendes Kunstwerk auszustellen. Die Duplizität der Ereignisse ist angetan, darauf zu verweisen, dass hier zwei zeitlich weit auseinander liegende Ereignisse im Innersten miteinander zusammenhängen. Timm Ulrichs radikalisiert auf ebenso sarkastische wie erhellende Weise die Geste Duchamps, dass Kunst ist, was des Künstlers Hand berührt oder anders, dass in Zeiten, wo es keine normative Ästhetik mehr gibt, Konsensus über das, was wir unter Kunst zu verstehen haben, stets aufs Neue hergestellt und ausgehandelt werden muss. Timm Ulrichs greift die Frage nach dem Status des Kunstwerkes in der Moderne wieder auf - eine Frage, mit der wir noch lange nicht am Ende sind -, nur um sie noch zugespitzter, noch provokanter, noch dringlicher zu stellen.

Dabei wird anders als bei Duchamp das eigene Ich für Ulrichs zum Exerzierplatz und weiten Feld, auf dem er dieses Problem in stets neuen Facetten und Formen verhandelt. Die einzelnen Kunstaktionen, Happenings und Ich-Manifestationen verbinden sich bei ihm zu einer Art Netzwerk, zusammengehalten von der Theorie des Künstler-Ichs als Kunst. Das Künstler-Ich wird zum Protagonisten immer neuer Inszenierungen und vielfarbiger Dramaturgien. Blutspendeaktionen thematisiert Ulrichs als Medium direkter Kommunikation. Die nicht wahrnehmbaren Bereiche, also die »blinden Flecken« seines Körpers, kennzeichnet er mit weißer Farbe.

Er benutzt seine Haut als Malfläche und die Sonnenstrahlen als Pinsel.

»Painter as Canvas« heißt das Jahrzehnte später bei Immendorff. Durch Einnahme von Chemikalien pisst Ulrichs vielfarbig und setzt damit eine alte Forderung des Surrealisten Tristan Tzara ins Werk: »Nous voulons, nous voulons, nous voulons pisser en couleur différentes!« und kommt den Piss Paintings von Andy Warhol um viele Jahre zuvor. Er schminkt sich als Transvestit ebenfalls lange vor Warhol oder Klauke. Er sammelt seine abgeschnittenen Finger- und Fußnägel und bindet seine abgeschnittenen Haare zum Künstlerpinsel zusammen, was auch Rosemarie Trockel später tun wird. Lange vor dem Spanier Jaume Plensa macht er seinen Herzschlag und seine Atemgeräusche als Totalmusik hörbar. Ein Jahr lang ernährt er sich genau nach dem vom Statistischen Jahrbuch errechneten Pro-Kopf-Verbrauch des Bundesbürgers und lässt so eine Fiktion der Statistiker groteske Wirklichkeit werden. In einem persönlichen Tagebuch über 24 Stunden zeichnet er die genauen Daten auf, die Leben definieren, die Linien des Elektrokardiogramms, die Atembewegungen der Lunge, die Zeitspuren des Elektroenzephalogramms, das definitivste Tagebuch, das man sich denken kann, nicht spekulativ, nicht philosophisch, sondern absolut naturalistisch. Unnötig zu sagen, dass der Empirismus dieser Ich-Forschungen sich selbst bewusst ad absurdum führt.

In ihren nachweisbaren, konkreten, messbaren und überhaupt nicht metaphorischen oder symbolischen Aussagen unterscheiden sich die immer neuen Volten und Varianten der Selbstdarstellung von Timm Ulrichs in fundamentaler Weise von den Porträts und Selbstdarstellungen, wie wir sie aus der Kunstgeschichte von Dürer und Rembrandt bis hin zu Beckmann, Kirchner, Beuys oder Warhol kennen. Bei diesen geht es immer um eine spezifische Rolle, in der sie sich als Künstler sehen, eine Rolle, die sich mit ihrer sozialen Situation und ihrem künstlerischen Selbstverständnis verbindet. Ob arriviert oder Außenseiter, ob Prophet und Priester, Seher und Missionar oder verkannter Schmerzensmann und leidender Christus, ob Jedermann oder Ausnahmefigur, ob Erotomane oder Asket, Titan oder typischer Protagonist von was auch immer, stets geht es bei solchen Porträts und Selbstdarstellungen jenseits von Repräsentanz und Typologie um ein spezifisches Selbstverständnis, um den individuellen Charakter, die singuläre Person.

Anders bei Timm Ulrichs. Wie oft er auch im Bild erscheint, ob als blinder Seher, der mit schwarzer Brille und Blindenstock in der Welt herumtastet und dabei doppelsinnig erklärt, er könne keine Kunst mehr sehen - auch das im übrigen wieder eines der Motive von Timm Ulrichs, das von einem anderen Künstler, einem jungen Amerikaner, aufgegriffen wurde, der mit einem Blindenstock einem Objekt von Donald Judd hinterherspürt und dabei erklärt : Oh, Donald Judd, my Favorite! -, ob es also um die zur Ikone gewordene Fotoarbeit »Ich kann keine Kunst mehr sehen!« geht, oder ob wir den Künstler hinter einen von ihm bereits zu Lebzeiten gefertigten Grabstein stehen sehen, in den die memorablen Worte gemeißelt sind »Denken Sie immer daran, mich zu vergessen!« - wer hätte je eleganter und leichthändiger das Psychodrama des double-bind in linguistische Form gegossen? -, ob der Künstler sich als Findling in einem Grab einschließen lässt, als lebender Blitzableiter lange vor Walter de Marias »Lightning Field« über die Heide irrt, ob er als Tretmühlen-Hamster bei den Olympischen Spielen 1972 auftritt, sich zwischen zwei unter Strom stehende Elektrokabel legt oder in der Damokles-Installation unter einen Eisenträger setzt, der allein durch des Gesetz sich ausdehnender Wärme in Form gehalten und daran gehindert wird, herabzustürzen und den Künstler zu erschlagen, stets geht es darum, Gesetze und Maximen, Konventionen und Figuren zu demonstrieren, die Geist und Stoff, Physik und Sprache beherrschen und damit unser Leben. Dahinter tritt der Künstler Timm Ulrichs im Grunde zurück und wird letztlich paradoxerweise unsichtbar. Er verschwindet wie in seiner Videoarbeit »Reise zum Mittelpunkt des Ich«. Timm Ulrichs' Kunst ist alles andere als egozentrisch, jedenfalls nicht von der Art eitler Egozentrik, die wir von bestimmten Künstlern kennen, sondern die eigene Person dient hier zu nichts anderem als dazu, Rohstoff für die Kunst zu sein. Timm Ulrichs geht es nicht darum, die eigene Einzigartigkeit und Großartigkeit zu demonstrieren, sondern er will am Individuellen das Über-Individuelle, am Besonderen das Allgemeine deutlich werden lassen.

Noch das selbst verliehene Epitheton und Etikett »ein Ego-Genie« steht im Bann und in der Funktion des Wortspiels. Als Palindrom, als spiegelndes Wort, lässt es sich von vorne wie von hinten lesen. Damit umarmt Timm Ulrichs - er ist als konkreter Poet nicht weniger bekannt geworden denn als bildender Künstler - in seiner Selbstbeschreibung eine Wortfigur, wie sie auch Kurt Schwitters geliebt hat, der das Mädchen Anna nicht zuletzt deshalb so verehrte, weil sie so klar und wahr war mit einem Namen, der es erlaubt, ihn von vorn wie von hinten zu lesen.

Es handelt sich bei der Dame übrigens um jene Anna Blume, mit der Timm Ulrichs einst per Zeitungsinserat seine Verlobung bekannt gab. Damit ging von ihm nicht nur ein früher Anstoß aus, sich mit Werk und Person von Kurt Schwitters zu beschäftigen, der in seiner Heimatstadt Hannover ja lange genug missverstanden und in seiner Bedeutung übersehen worden war, sondern Ulrichs hat damals auch die Zeitungsseite als Träger künstlerischer Äußerungen entdeckt und in den Kunstdiskurs eingeführt.

Wie Idee und Sprachfigur von »ein Ego-Genie« sind auch andere Aktionen von Timm Ulrichs Demonstrationen unkonventionellen Denkens und damit für den Betrachter Anstoß, die eigene Situation zu reflektieren, nicht Aufforderungen zu Künstleridolatrie oder narzisstischer Selbstzweck.

Weitere Beispiele dafür, beliebig herausgegriffen aus einer beeindruckenden Fülle, wären das »Urnormalmaß«, mit dem sich Timm Ulrichs zum Maß aller Dinge macht. Indem er das eigene Körpermaß als Messinstrument propagiert statt des Pariser Urmeters von 1875, weist er auf die Willkürlichkeit dieses Maßes hin, das damals die bis dahin gebräuchlichen Naturmaße wie Fuß, Elle und Spanne ablöst. Ausgehend vom Körper des Künstlers sind wir ganz schnell bei einer theoretischen Debatte über Sinn und Unsinn gebräuchlichen Messens und der dahinter stehenden Konventionen. Ähnliches gilt, wenn Timm Ulrich sich für eine dreidimensionale Rekonstruktion in Form eines Höhenschichtenmodells vermessen lässt oder sein spezifisches Gewicht nach dem archimedischen Prinzip der Wasserverdrängung ermittelt. Selbst wenn er sich - lange vor der Tätowierungsfuror junger Künstler - eine Zielscheibe auf die Brust tätowieren lässt oder die Worte »The End« aufs rechte Augenlid, setzt er stellvertretend ins Bild, was uns alle betrifft. Unser Leben ist fragil und endlich wie das seine, auch wenn es nicht auf unserer Brust und unseren Lidern steht. So gilt: Was immer der Künstler an Selbstrepräsentationen realisiert, es geht uns an wie ihn. Stets gelten seine Kunstaktionen und Ich-Manifestationen der Beschreibung der condition humaine im allgemeinen. Das heißt: Bescheidener als Timm Ulrichs hat sich kein Künstler je dem Genre des Selbstporträts und der Selbstdarstellung verschrieben.

   

   
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